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Reisebericht, Seite 4 von 5

Wie wir später noch sehen werden, können Viktor und Volodja auch schräge, dicke und knorpelige Eichen damit sehr schnell und souverän besteigen.

Bei einem Wettbewerb beider Aufstiegsmethoden müssten wir uns schon anstrengen und Tim ist darin wirklich ein Meister. Wir verlieren oftmals wertvolle Minuten, da wir erst mittels eines Wurfbeutels ein kleines Seil einschmeißen müssen, um daran das Aufstiegsseil hochziehen zu können. Nur wenn wir beim ersten Wurf die angepeilte Astgabel treffen und alles parat haben, sind wir vielleicht im Vorteil.

Das Arbeitsklettern unterscheidet sich nicht allzu sehr von unserer Doppelseilklettertechnik. Die Klemmknoten sind etwas anders. Die beiden russischen Kollegen haben einen dickeren und einen dünneren „Prussik“ als Sicherheit. Viktor und Volodja setzen oft die Stangensäge ein. Der Ankerpunkt ihrer Gurte sitzt recht hoch, das macht das weite Herausklettern auf die Äste etwas schwierig.

Ich versuche zu erklären, dass unsere Auftraggeber von uns verlangen, bei Entlastungsschnitten im Feinastbereich den richtigen Schnittwinkel einzuhalten. Dieses könne man schlecht mit Stangensägen bewältigen. Die Kletterei sei bei uns in der Konkurrenz zu dem vorher üblichen Hubsteigereinsatz entstanden und müsse sich immer mindestens damit messen können. Anatoly entgegnet, dass in Russland die Baumpflege nicht mit Hubsteigern ausgeführt wird. Alpinisten hätten vor ca. 30 bis 40 Jahren damit begonnen, Bäume zu pflegen.

Wir haben dann alle zusammen noch 3 größere Stieleichen geschnitten.

 

Nach Feierabend genieße ich die Fahrten in der Metro zurück in die Stadt. Die historischen Breitspurwagen rattern sanft, die alten Glühbirnenlampen geben ein mildes Licht, die Luft ist gut. Die meisten Fahrgäste sind in sich gekehrt, ich fühle mich wie in einem alten Science Fiktion Film von Fritz Lang; Metropolis.

Traum und Alptraum dieser Stadt begegnen uns wieder kurz.

In die vollbesetzte U Bahn stürzt ein stark blutender Mann. Er hat sich an der Hand verletzt. Was sollen wir machen? Sayana fragt den Verletzten, er antwortet: Es sei der schnellste Weg ins Krankenhaus, auf den Straßen herrsche nur Stau, er schaffe das schon.

In den nächsten Tagen begegnen uns hin und wieder bettelnde Invaliden in Soldatenuniform, wahrscheinlich aus den Kriegen in Afghanistan oder Tschetschenien. Ein beinamputierter-, stark alkoholisierter Kriegsveteran humpelt am selben Abend in unserer Straße und äußert lautstark nichts anderes als pure Verzweifelung und Verlassenheit.

Mir fällt im Eindruck der prächtigen Kirchen und Kathedralen der russisch- orthodoxen Kirche, die neben den weltlichen Insignien des Zaren- und Sowjetreiches das Stadtbild prägen, der Bergriff der Unerlöstheit ein.

Vielleicht ist in dieser Stadt der Bogen vom einzelnen Menschen zu den großen, gesellschaftlichen Zusammenhängen der Geschichte und Gegenwart viel weiter gespannt erlebbar als bei uns.

 

Am nächsten Tag arbeiten wir auf einem historischen Friedhof am Alexander Nevsky Kloster, in der Altstadt am Newaufer. Hier liegen viele russische Berühmtheiten begraben, von Dostojewski bis Tschaikowski. Die Grabmahle sind kostbare Steinmetzearbeiten mit faszinierenden religiösen Ornamenten. Anatolij macht uns klar, dass es ihm viel Mühe gekostet hat, die langen Wege der russischen Bürokratie zu gehen, um eine Erlaubnis zu erhalten, mit uns an diesem besonderen Ort arbeiten zu können.

 

Anatolijs Leute kommen zur Arbeit. Die Kletterwerkzeuge im Rollkoffer hinter sich herziehend begrüßt uns Volodja aus 50 m Entfernung lautstark mit einem „Donnerwetter noch mal“, dass „R“ stark gerollt ausgesprochen. Alles lacht. Volodja ist in Karl Marx Stadt, dem heutigen Chemnitz geboren und spricht ein paar Brocken Deutsch.

 

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